Eine Kundin hat ihr vor ein paar Wochen von der Vesperkirche erzählt. „Das hat mich ziemlich berührt“, erinnert sich Heike Hübl. Danach hat sie sich bei Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann gemeldet. In diesem Jahr macht sie zum ersten Mal im Team der ehrenamtlichen Friseure mit. Seit dem Start der 25. Stuttgarter Vesperkirche für Bedürftige kommt sie jeden Montag mit zwei weiteren Kollegen in die Leonhardskirche, wo dann so eine Art Pop-Up-Friseursalon im Chor des Gotteshauses entsteht.
Das Angebot ist gefragt. „Jeder von uns schneidet an einem Tag etwa 20 Personen die Haare“, sagt Kollege Fritz Stehle. Hübl macht der ehrenamtliche Einsatz Spaß. Es sei aber nicht immer einfach, fügt sie hinzu: Kurz zuvor hat ihr ein Kunde gesagt, er sei nicht damit einverstanden, wie sie seine Haare geschnitten habe. „Das war anstrengend“, seufzt die Friseurin und lacht aber gleich wieder.
Solche Momente kennt ihr Kollege Stehle auch. Die meisten Kunden seien jedoch glücklicher als vorher, meint der frühere Friseurmeister, dem man seine 79 Jahre nicht ansieht. „Ich habe im Leben Glück gehabt und bin gesund geblieben“, ergänzt er. „Jetzt will ich etwas zurückgeben.“ Stehle verpasst gerade Anton K. eine ordentliche Frisur, damit dieser Fotos für einen neuen Personalausweis machen kann.
Man habe ihm ein Bein gestellt und alles gestohlen, erzählt der 58-Jährige, der sich über Stehles Einsatz freut. Das Leben des gebürtigen Slowenen ist aus den Fugen geraten, so wie bei vielen anderen Gästen der Vesperkirche. Heute sammelt Anton K., der seit 1994 in Stuttgart lebt, leere Flaschen. Er erzählt, dass er gelernter Koch ist, schon bei der Skiflug-Weltmeisterschaft im slowenischen Planica gekocht habe und auch für über 2000 Mitarbeiter einer slowenischen Firma im Irak.
Vor viereinhalb Jahren hatte er einen Schlaganfall. Dreieinhalb Monate sei er danach im Koma gelegen. Seither plage ihn Schwindel und er könne nicht mehr arbeiten, sagt der hagere Mann, der nur gebrochen Deutsch spricht. Seit drei Jahren besucht er die Vesperkirche.
Extra aus Böblingen gekommen ist Anita Z. Mit ihrer Witwenrente könne sie keine großen Sprünge machen, sagt die 70-Jährige. „Da bin ich froh, wenn es so eine Aktion wie das Haareschneiden gibt“. Dreimal in der Woche fährt Anita Z. zur Vesperkirche nach Stuttgart und ist immer wieder erstaunt, „dass man im Gegensatz zu Böblingen in Stuttgart die Armut deutlich sieht“.
Diakoniepfarrerin Ehrmann findet es „ganz wichtig, dass sich die Besucher „wieder schön und ganz fühlen“. Daran zeige sich, „dass zum Menschsein mehr gehört als das Essen“, sagt die Theologin. Davon ist auch die Friseurgesellin Ilde Palotta überzeugt. Sie ist seit sechs Jahren dabei. „Gutes tun tut selber gut“, meint die 42-Jährige. „Sie machen einen richtig heftigen Job“, lobt Ehrmann das Team der Friseure.
Zufrieden ist sie mit dem bisherigen Verlauf der Vesperkirche. Ernste Vorfälle habe es keine gegeben, nur einmal sei bei einem Streit Pfefferspray versprüht worden, berichtet die Pfarrerin erleichtert. Und etwa ein Dutzend Menschen wurden wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes in die Klinik eingewiesen.

Einsatz begeistert Pfarrerin

Viele der Vesperkirchen-Besucher stammen aus Polen, Russland oder Rumänien, erklärt Ehrmann. Es seien aber auch ältere Menschen mit kleiner Rente da oder einfach Personen, die einsam seien und den ganzen Tag in der Kirche verbringen. Die Pfarrerin kommt jeden Tag in die Kirche, spricht mit Besuchern und kümmert sich um die Ehrenamtlichen. Sie fühlt sich beflügelt, wenn sie sieht, „wie Menschen sich für andere einsetzen“.
Sie freut sich, dass alle „mit ganzem Herzen und voller Leidenschaft“ dabei sind. Dazu gehört unter anderem auch die grüne Landtagsabgeordnete Brigitte Lösch. Ihr ist aufgefallen, dass „viele ältere Frauen“ die Vesperkirche besuchen. „Es gibt Bedarf in Stuttgart, für Arme Angebote zu machen“, sagt sie. Für Lösch, die auch Mitglied im württembergischen evangelischen Kirchenparlament ist, gehört das „zum diakonischen Auftrag unserer Landeskirche“.

Infokasten

600 Mittagessen werden täglich geliefert

Die Vesperkirche begann am 13. Januar und endet am 2. März. Rund 870 Ehrenamtliche engagieren sich jedes Jahr. Nach Angaben von Diakoniepfarrerin Gabriele Ehrmann sind jeden Tag 35 ehrenamtliche Helfer und acht hauptamtliche Diakone mit der Ausgabe von Essen und Getränken und der Betreuung der Gäste beschäftigt. Ein zehnköpfiges Putzteam macht sauber. Das Rudolf-Sophien-Stift liefert täglich rund 600 Mittagessen.
Neben den Friseuren kommt auch die Fußpflegerin Uta Heß. Jeden Tag ist außerdem ein Arzt in der Kirche. Die Vesperkirche will ein Ort der Gemeinschaft sein mit Konzerten und politischen Veranstaltungen. lan